Bleibt alles anders?

01.10.2018 | Lehre, Wirtschaftsingenieurwesen, Logistik
Digitalisierung – Gedanken zur Zukunft der Hochschullehre

von Prof. Dr. Christian Kraus

Als  die  ersten  Universitäten  in  Europa  gegründet  wurden,  war  der  Buchdruck  noch  nicht  erfunden  und  die  Alphabetisierungsquote  in  der  Bevölkerung  nicht  sehr  hoch. Die damaligen akademischen Lehrer passten sich der Lebensrealität ihrer Zuhörer an und lasen ihre und die Gedanken ihrer Vordenker den Studierenden vor. Der Stuhl, auf dem sie saßen, war der Lehrstuhl und Assistenten und Studierende hörten im Saal zu. Wie vor 1000 Jahren  finden  wir  an  Hochschulen  heute  Lehrstühle  (bzw. Professuren), Vorlesungen und Hörsäle.

Die Lebensrealität hat sich mittlerweile geändert. Nicht nur  der  Buchdruck  wurde  erfunden,  Kameras,  Computer,  das  Internet,  Smartphones  und  Tablets  prägen  unseren  Alltag.  Natürlich  haben  sich  auch  Vorlesungen verändert: statt monoton aus einem Buch vorzulesen,  lesen  Hochschullehrer  mittlerweile  monoton  von  Power-Point-Folien  ab.  Gleich  blieb  jedoch  häufig  die  didaktische Form, nämlich der Frontalunterricht.

Digitalisierung: Was heißt das eigentlich?

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  hier  ein  Umdenken  stattfinden muss, um den Lehrbetrieb an die modernen Lebensformen  anzupassen.  Häufig  geschieht  das  bereits  jetzt, allerdings steckt vieles noch in den Anfängen. Ein Schlagwort, das in Zusammenhang mit der Modernisierung der Lehre immer wieder fällt, ist „Digitalisierung“. Wie  bei  der  Digitalisierung  in  anderen  Bereichen  (z.B.  Industrie 4.0), weiß aber kaum jemand so recht, wie dieser abstrakte Begriff mit Leben gefüllt werden kann.

Vor  einigen  Jahren  lagen  sog.  MOOCS  (Massive  Open  Online  Courses)  im  Trend,  kostenlose  Kurse  auf  Hochschulniveau, die über eLearning-Systeme besucht werden können. In der Regel werden Vorlesungen dabei als Videodatei  bereitgestellt  und  die  Studierenden  lösen  Übungsaufgaben  in  der  eLearning-Umgebung  und  erhalten ggf. ein Feedback des Dozententeams. Während die  Teilnahme  kostenlos  ist,  wird  für  den  Erwerb  eines  Zertifikates  eine  Gebühr  erhoben.  Diese  Methode  hat  viele Vorteile: unabhängig von Zeit und Ort, von sozialer Herkunft  oder  Vorbildung  kann  ein  Kurs  besucht  werden.  Jedoch  zeigte  sich  schnell,  dass  nur  sehr  wenige  Teilnehmer  die  Kurse  tatsächlich  abschlossen.  In  dieser rein virtuellen Form des Lernens ist die Gefahr der sozialen  Isolation  offenbar  groß  und  eine  gegenseitige  Unterstützung von Studierenden fast nicht möglich.

Blended Learning – Mix it

Aktuell  erfolgversprechender  ist  deshalb  der  Ansatz  des  Blended  Learning.  Da  „Blended“  zunächst  einfach  nur  mit  „vermischt“  übersetzt  werden  kann,  würde  darunter jegliche Form des Unterrichts fallen. In der Welt der  Lehre  versteht  man  darunter  aber  die  Mischung  aus  virtuellen  eLearning-Angeboten  mit  Präsenzveranstaltungen.  Wie  gemischt  wird,  bleibt  dem  Dozenten  überlassen.  So  kann  eine  virtuelle  Wissensvermittlung  vorab  stattfinden  und  in  der  Präsenzphase  werden  die  erlernten Dinge eingeübt, z.B. in Form von Fallstudien. Aber  auch  der  umgekehrte  Weg  ist  möglich:  in  einer  Frontalvorlesung  werden  Inhalte  vermittelt  und  virtuell werden Übungsaufgaben gelöst. Auch eine sandwichartige Kombination kann zielführend sein.

Die Vorteile Blended Learnings liegen auf der Hand: die virtuellen Teile können örtlich und zeitlich ungebunden absolviert  werden,  durch  die  Präsenzveranstaltungen  bleibt  die  soziale  Interaktion  gewahrt.  Die  Gewichtung  der  virtuellen  Anteile  und  der  Präsenzveranstaltung lässt  sich  auf  die  Bedürfnisse  des  jeweiligen  Faches  abstimmen,  es  muss  nicht  immer  50:50  sein.  Durch  die Integration von virtuellen Anteilen in die bestehende Lehrveranstaltung werden die Vorteile der digitalen Wissensvermittlung  gewahrt  und  gleichzeitig  einige  Nachteile der Virtualisierung vermieden.

Ein weiterer möglicher Ansatz, um auf die geänderten Lebensumstände  zu  reagieren,  ist  die  Anreicherung  von  Präsenzveranstaltungen  mit  Mitteln  der  digitalen  Lehre.  Studierende  sind  während  klassischer  Vorlesungen  ohnehin  zum  Großteil  online,  Internet  ist  an  der  FHWS  nahezu  flächendeckend  verfügbar,  warum  sollte  man  dies  nicht  in  der  Lehre  nutzen?  Möglich  wären z.B. die Durchführung von Verständnistests mit Hilfe sog. Audio Response Systeme, die kostenfrei verfügbar sind.

Viel größer sind noch die Chancen bei der Vermittlung von  Kompetenzen.  Werden  z.B.  in  einer  Präsenzveranstaltung kleine Rechercheaufgaben verteilt, können die  Studierenden  zunächst  in  den  ihnen  bekannten  Quellen  im  Netz  suchen  und  in  einer  anschließenden Diskussion die Beurteilung von Quellen hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Verwertbarkeit diskutieren. Dies schult  nicht  nur  die  Medienkompetenz  der  Studieren-den, sondern schafft gleichzeitig Motivation, da die Studierenden in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt Wissen zu erfahren und dies in einem sozialen Rahmen zum Ausdruck bringen können. Für den Lehrenden bedeutet dies allerdings einen Rollenwechsel: vom vortragenden Alleswisser, zum mitsuchenden Moderator.

Da  mittlerweile  weltweit  mehr  Menschen  über  einen  Onlinezugang als über eine Zahnbürste verfügen, wäre es  schade,  wenn  man  die  Möglichkeiten  der  globalen  Wissensvernetzung  nicht  in  die  Lehre  einfließen  lassen  würde.  Ob  dies  in  Form  reiner  virtueller,  integrierter  oder  angereicherter  Veranstaltungen  passiert,  ist  letztlich den Vorlieben der jeweiligen Studierenden und Dozenten  überlassen.  Viele  Studierende  und  Lehrende  sind  für  derartige  Neuerungen  sehr  offen  und  sehen  mehr Vor- als Nachteile der innovativen Lehrformen.

Organisatorische Herausforderungen

Es  bleibt  zu  hoffen,  dass  auch  die  organisatorischen  Rahmenbedingungen  der  Hochschullehre  dieser  Entwicklung   Rechnung   tragen.   Ein   semesterbegleitender  Erwerb  von  Teilprüfungsleistungen  kann  z.B.  dazu  beitragen,  die  Motivation  der  Studierenden  aufrecht  zu  erhalten,  ist  aber  momentan  nur  schwer  realisierbar.  Auch  die  Arbeitsleistung  für  die  Konzeption  und  Durchführung  moderner  Lehrformen  muss  gewürdigt  werden. Ob der Dozent im Hörsaal steht oder eine vernetzte  Gruppe  virtuell  betreut,  darf  in  Zukunft  für  die  Anrechnung auf die Lehrverpflichtung keine Rolle mehr spielen.  Schließlich  muss  auch  die  Ausstattung  von  Lehrräumen  angepasst  werden.  Zu  häufig  sind  Hörsäle tatsächlich auf Frontalunterricht ausgerichtet, bieten keine Möglichkeit flexibel Arbeitsgruppen zu bilden oder unkompliziert Arbeitsergebnisse zu teilen.

Um eine erfolgreiche Anpassung der Lehre auf die geänderte Lebensrealität zu gewährleisten, reichen keine Lippenbekenntnisse  bzgl.  Digitalisierung  und  die  reine  Bereitstellung  finanzieller  Mittel.  Es  gilt  durch  Anreize  die Lehrenden zu ermutigen, sich auf neue Lehrformen einzulassen  und  die  technischen  und  räumlichen  Verhältnisse  auf  die  geänderten  Lehrformen  anzupassen.  Wir werden sehen, ob das Internet schneller in der Lehre ankommt als der Buchdruck!