Bleibt alles anders?
von Prof. Dr. Christian Kraus
Als die ersten Universitäten in Europa gegründet wurden, war der Buchdruck noch nicht erfunden und die Alphabetisierungsquote in der Bevölkerung nicht sehr hoch. Die damaligen akademischen Lehrer passten sich der Lebensrealität ihrer Zuhörer an und lasen ihre und die Gedanken ihrer Vordenker den Studierenden vor. Der Stuhl, auf dem sie saßen, war der Lehrstuhl und Assistenten und Studierende hörten im Saal zu. Wie vor 1000 Jahren finden wir an Hochschulen heute Lehrstühle (bzw. Professuren), Vorlesungen und Hörsäle.
Die Lebensrealität hat sich mittlerweile geändert. Nicht nur der Buchdruck wurde erfunden, Kameras, Computer, das Internet, Smartphones und Tablets prägen unseren Alltag. Natürlich haben sich auch Vorlesungen verändert: statt monoton aus einem Buch vorzulesen, lesen Hochschullehrer mittlerweile monoton von Power-Point-Folien ab. Gleich blieb jedoch häufig die didaktische Form, nämlich der Frontalunterricht.
Digitalisierung: Was heißt das eigentlich?
Es liegt auf der Hand, dass hier ein Umdenken stattfinden muss, um den Lehrbetrieb an die modernen Lebensformen anzupassen. Häufig geschieht das bereits jetzt, allerdings steckt vieles noch in den Anfängen. Ein Schlagwort, das in Zusammenhang mit der Modernisierung der Lehre immer wieder fällt, ist „Digitalisierung“. Wie bei der Digitalisierung in anderen Bereichen (z.B. Industrie 4.0), weiß aber kaum jemand so recht, wie dieser abstrakte Begriff mit Leben gefüllt werden kann.
Vor einigen Jahren lagen sog. MOOCS (Massive Open Online Courses) im Trend, kostenlose Kurse auf Hochschulniveau, die über eLearning-Systeme besucht werden können. In der Regel werden Vorlesungen dabei als Videodatei bereitgestellt und die Studierenden lösen Übungsaufgaben in der eLearning-Umgebung und erhalten ggf. ein Feedback des Dozententeams. Während die Teilnahme kostenlos ist, wird für den Erwerb eines Zertifikates eine Gebühr erhoben. Diese Methode hat viele Vorteile: unabhängig von Zeit und Ort, von sozialer Herkunft oder Vorbildung kann ein Kurs besucht werden. Jedoch zeigte sich schnell, dass nur sehr wenige Teilnehmer die Kurse tatsächlich abschlossen. In dieser rein virtuellen Form des Lernens ist die Gefahr der sozialen Isolation offenbar groß und eine gegenseitige Unterstützung von Studierenden fast nicht möglich.
Blended Learning – Mix it
Aktuell erfolgversprechender ist deshalb der Ansatz des Blended Learning. Da „Blended“ zunächst einfach nur mit „vermischt“ übersetzt werden kann, würde darunter jegliche Form des Unterrichts fallen. In der Welt der Lehre versteht man darunter aber die Mischung aus virtuellen eLearning-Angeboten mit Präsenzveranstaltungen. Wie gemischt wird, bleibt dem Dozenten überlassen. So kann eine virtuelle Wissensvermittlung vorab stattfinden und in der Präsenzphase werden die erlernten Dinge eingeübt, z.B. in Form von Fallstudien. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: in einer Frontalvorlesung werden Inhalte vermittelt und virtuell werden Übungsaufgaben gelöst. Auch eine sandwichartige Kombination kann zielführend sein.
Die Vorteile Blended Learnings liegen auf der Hand: die virtuellen Teile können örtlich und zeitlich ungebunden absolviert werden, durch die Präsenzveranstaltungen bleibt die soziale Interaktion gewahrt. Die Gewichtung der virtuellen Anteile und der Präsenzveranstaltung lässt sich auf die Bedürfnisse des jeweiligen Faches abstimmen, es muss nicht immer 50:50 sein. Durch die Integration von virtuellen Anteilen in die bestehende Lehrveranstaltung werden die Vorteile der digitalen Wissensvermittlung gewahrt und gleichzeitig einige Nachteile der Virtualisierung vermieden.
Ein weiterer möglicher Ansatz, um auf die geänderten Lebensumstände zu reagieren, ist die Anreicherung von Präsenzveranstaltungen mit Mitteln der digitalen Lehre. Studierende sind während klassischer Vorlesungen ohnehin zum Großteil online, Internet ist an der FHWS nahezu flächendeckend verfügbar, warum sollte man dies nicht in der Lehre nutzen? Möglich wären z.B. die Durchführung von Verständnistests mit Hilfe sog. Audio Response Systeme, die kostenfrei verfügbar sind.
Viel größer sind noch die Chancen bei der Vermittlung von Kompetenzen. Werden z.B. in einer Präsenzveranstaltung kleine Rechercheaufgaben verteilt, können die Studierenden zunächst in den ihnen bekannten Quellen im Netz suchen und in einer anschließenden Diskussion die Beurteilung von Quellen hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Verwertbarkeit diskutieren. Dies schult nicht nur die Medienkompetenz der Studieren-den, sondern schafft gleichzeitig Motivation, da die Studierenden in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt Wissen zu erfahren und dies in einem sozialen Rahmen zum Ausdruck bringen können. Für den Lehrenden bedeutet dies allerdings einen Rollenwechsel: vom vortragenden Alleswisser, zum mitsuchenden Moderator.
Da mittlerweile weltweit mehr Menschen über einen Onlinezugang als über eine Zahnbürste verfügen, wäre es schade, wenn man die Möglichkeiten der globalen Wissensvernetzung nicht in die Lehre einfließen lassen würde. Ob dies in Form reiner virtueller, integrierter oder angereicherter Veranstaltungen passiert, ist letztlich den Vorlieben der jeweiligen Studierenden und Dozenten überlassen. Viele Studierende und Lehrende sind für derartige Neuerungen sehr offen und sehen mehr Vor- als Nachteile der innovativen Lehrformen.
Organisatorische Herausforderungen
Es bleibt zu hoffen, dass auch die organisatorischen Rahmenbedingungen der Hochschullehre dieser Entwicklung Rechnung tragen. Ein semesterbegleitender Erwerb von Teilprüfungsleistungen kann z.B. dazu beitragen, die Motivation der Studierenden aufrecht zu erhalten, ist aber momentan nur schwer realisierbar. Auch die Arbeitsleistung für die Konzeption und Durchführung moderner Lehrformen muss gewürdigt werden. Ob der Dozent im Hörsaal steht oder eine vernetzte Gruppe virtuell betreut, darf in Zukunft für die Anrechnung auf die Lehrverpflichtung keine Rolle mehr spielen. Schließlich muss auch die Ausstattung von Lehrräumen angepasst werden. Zu häufig sind Hörsäle tatsächlich auf Frontalunterricht ausgerichtet, bieten keine Möglichkeit flexibel Arbeitsgruppen zu bilden oder unkompliziert Arbeitsergebnisse zu teilen.
Um eine erfolgreiche Anpassung der Lehre auf die geänderte Lebensrealität zu gewährleisten, reichen keine Lippenbekenntnisse bzgl. Digitalisierung und die reine Bereitstellung finanzieller Mittel. Es gilt durch Anreize die Lehrenden zu ermutigen, sich auf neue Lehrformen einzulassen und die technischen und räumlichen Verhältnisse auf die geänderten Lehrformen anzupassen. Wir werden sehen, ob das Internet schneller in der Lehre ankommt als der Buchdruck!